Der Kanzelaltar
Geschichte
Bei dem Wahrener Kanzelaltar handelt es sich nicht, wie etwa bei dem Beispiel im benachbarten Lindenthal, um die Anfertigung in einem einmaligen Akt. Vielmehr verdankt er seine gegenwärtige Gestalt einer allmählichen Zusammenführung ganz unterschiedlicher Bestandteile aus reichlich 500 Jahren.
Als älteste Teile dieser Gesamtkomposition haben sich zum einen die Altarplatte aus Sandstein mit einem Reliquiengrab (heute leer), und zum anderen die Predella (Unterbau) des ehemaligen Flügelaltars erhalten.
1497 hatte ihn die Werkstatt Thomas Marschalk aus Leipzig als den längst erwünschten Marienaltar geliefert.
Er zeigte im Schrein – so eine aufgefundene spätere Zeichnung – die Krönung Marias durch ihren Sohn Jesus Christus und war an den Seiten flankiert durch die vier Heiligen Barbara, Dorothea, Katharina und Margarete als die Vertreterinnen des himmlischen Hofstaates der Maria.
In den beiden Flügeln links und rechte standen die zwölf Apostel, abgebildet als Garanten und Bekenner der christlichen Lehre. Sie sind als einzig gerettetes Schnitzwerk jetzt aufbewahrt in den rekonstruierten Flügeln an der Südwand des Altarraumes.
Dagegen noch immer am alten Platz befinden sich, jüngst vom verbräunten Firnis gereinigt, die zwei Predellengemälde der Christgeburt und der Anbetung durch die heiligen Drei Könige. Das Mittelstück der Predella, einst mit Bild oder Schnitzwerk ausgestattet und vielleicht den Tod Marias inmitten der zwölf Jünger darstellend, ging zu unbekannter Zeit verloren.
Nachdem 1711 die Kirche modernisiert worden war, wurden 1736 die Orgel und der Altar umgestaltet. Man hing die Flügel mit den Apostelfiguren ab, stellte sie oben auf den Schrein und stabilisierte den Aufbau durch zwei seitliche Säulen, geschmückt mit römischen Kompositkapitellen, Girlanden und zusätzlichem Bandelwerk. Der krönend aufgesetzte, sogenannte gesprengte Giebel bekam eine Gloriole mit dem hebräischen Gottesnamen. Gestaltet war diese imposante barocke Altarwand unter Einschluss von golden wirkendem Dekor in blass blaugrauer Marmormalerei, wie auch die Abbildung von 1841 noch zeigt. Zugleich wurden 1736 die beiden Predellenbilder abgedeckt.
Nach reichlich weiteren 100 Jahren erfolgte 1844 eine erneute Modernisierung des Innenraums der Kirche. Neben mehr Licht und zusätzlichen Sitzplätzen erhielt außerdem die Kanzel einen veränderten Ort. Dazu angeregt war Pfarrer Gottlob Herrnsdorf (1789–1863), seit 1823 in Wahren, vielleicht auch durch die zweite Predigtstelle Lindenthal. Die Kanzel wurde jetzt vom südlichen Triumphbogen in die bisherige Altarwand versetzt, nachdem man vorher den Schrein – seither Totalverlust – und die darüber stehenden Flügel entfernt hatte. Nur die Apostelfiguren konnten durch das Eingreifen der Patronatsherrschaft gerettet werden. Aber auch die Kanzel erlebte erhebliche Einbußen. Um sie für ihren neuen Platz passend zu machen, blieben von den ursprünglich vier Brüstungsfeldern mit den Evangelistenbildern nur drei übrig, nämlich die von Matthäus mit dem Engel, Markus mit dem geflügelten Löwen und Lukas mit dem Stier, sowie der verstümmelte Schalldeckel und die Tür mit ihrem Rahmen.
Diese Maßnahme ist im Blick auf die Kanzel umso bedauerlicher, weil, seit der Reinigung noch deutlicher,
hier einer handwerkliche Leistung vorliegt, die über Sachsen hinaus Vergleiche sucht. Die ausgeführte präzise Intarsienarbeit, gefertigt in verschiedenen Holzarten, besitzt außergewöhnlichen Rang. Sie entstand in der Zeit um 1600. Ein genaues Datum ging möglicherweise verloren durch die infolge der Kanzelverkleinerung abgebrochene Stiftungsinschrift unterhalb der Brüstung: MARTHA · JACOB · CRUTZNERS · S · N · W · LORENS · BAUERS · MUTER · VEREHRT · M I.
Besser erschließen lässt sich der am Schalldeckel umlaufende lateinische Text. Er vermittelt Gottes Ermutigung und Verheißung für den Prediger aus dem Buch des Propheten Jesaja, Kapitel 55, Vers 11, EGREDITUR DE ORE MEO NON REVER TETUR AD ME VACU [UM], deutsch: ([das Wort,] das aus meinem Munde geht, soll nicht leer zu mir zurückkehren).
Während der großen Erneuerung des Gebäudes von 1901 bis 1903 wurde auch, wie später nochmals in den 60er Jahren, die Trennung der Bestandteile des Kanzelaltars erörtert. Doch als man während der Renovierung die mit Brettern verkleideten Predellenbilder wiederentdeckte, entschloss man sich sogar zu einer zusätzlichen Aufwertung des Kanzelaltars, indem man ihm nach barockem Vorbild zwei Seitenpforten für den Abendmahlsumgang anfügte. Herausgenommen wurde die Gloriole im Giebel, damit die Sicht auf das neue Deckengemälde „Gottvater mit den ersten Menschen“ ermöglicht wurde. Die Farbfassung von 1844 blieb annähernd bewahrt und setzt sich seither bis in die Gegenwart fort, nur sorgten der damalige Firnisanstrich wie auch spätere Behandlungen dafür, dass die Kanzel immer dunkler und zunehmend verkleistert wurde.
Nachfolgende Renovierungen des Kircheninneren entfernten 1929 die Seitenpforten und fügten nach Überstreichung der Deckengemälde 1965 in den oben leeren Giebel wiederum eine Gloriole ein. Insgesamt verschlechterte sich der Zustand des Kanzelaltars.
Leider konnte er innerhalb der umfangreichen Maßnahmen zur baulichen Erhaltung der Kirche 1991 bis 1993 aus Mangel an Zeit und vor allem an Geld eilig nur einem einfachen Abwaschen unterzogen werden. Gezielte Anstrengungen zur Rettung setzten ab 2013 ein.
Unter Vermittlung des Landesamtes für Denkmalpflege Sachsen wurde an der Fachhochschule Potsdam speziell ein Restaurator für die Intarsienarbeit der Kanzel ausgebildet.
Schier endlos gestalteten sich seit 2013 der Schriftverkehr sowie die Konsultationen vor Ort, bis schließlich 2018 in einer konzertierten Aktion der verschiedenen Gewerke, darunter ergänzend auch Elektriker, Maurer und Maler im Altarraum, die Rekonstruktion des Kanzelaltars zu einem gelungenen Abschluss geführt wurde.
Gerhard Graf
Den Bericht des Restaurators über seine Arbeit können Sie hier lesen.