Geschichte “Sankt Martin”

VORLESEGESCHICHTE

Eine ganz besondere Wärme

Marie zieht ihre neuen Handschuhe an und lächelt. Sie sind grasgrün mit kleinen weißen Punkten. Auf jeden Handschuh ist ein kleines Pferd gestickt, Maries Lieblingstier. Ihre Oma hat die Handschuhe selbst gestrickt, genau so, wie Marie sie sich gewünscht hat. Sie freut sich schon darauf, sie ihren Freundinnen im Kindergarten zu zeigen. Heute ist Waldtag. Die anderen Kinder der Igelgruppe warten schon. Warm eingemummelt stehen sie am großen Eisentor. „Guten Morgen, Marie“, begrü.t Frau Rother sie. „Schön, dass du da bist. Dann kann es ja losgehen!“ Gemeinsam stapfen sie über den weichen Waldboden. Die braunen Blätter knirschen leise unter Maries Stiefeln. Sie sind von einer dünnen, weißen Schicht bedeckt, genau wie die Bäume. „Ein bisschen gespenstisch“, findet Marie.

Auf einer Lichtung breitet Frau Rother die karierte Decke aus und alle wärmen sich mit einem Becher Früchtetee auf. „Morgen ist unser großer Laternenumzug“, sagt Frau Rother. „Kennt ihr die Geschichte vom heiligen Martin?“ Marie und die anderen Kinder machen es sich auf der Decke gemütlich und Frau Rother beginnt, zu erzählen:

Es war einmal ein Mann, der hieß Martin. Die Männer in seiner Familie waren Soldaten und so wurde auch Martin Soldat.
Eines Tages ritt Martin mit anderen Soldaten in eine Stadt. Schnee fiel vom Himmel und ein eisiger Wind pfiff um die Stadtmauern. Vor dem Stadttor saß ein alter Mann. Obwohl es Winter war und kalt, hatte er nur ein dünnes, löchriges Hemd an. Vor Kälte zitterte er am ganzen Körper. Als Martin den Mann so sah, tat sein Herz weh. Fast war es, als würde er selbst die Kälte fühlen, die den alten Mann so schrecklich bibbern ließ. Aber auch die Kälte der Menschen, die achtlos an dem Mann vorbeigingen, tat Martin weh.

Warum bot niemand seine Hilfe an?
Martin zögerte nicht. Schnell zog er sich seinen roten Soldaten-Mantel von den Schultern, zückte sein Schwert
und teilte damit den dicken Stoff in zwei gleich große Hälften. Einen Mantelteil reichte er dem alten Mann, den anderen behielt er selbst. Ungläubig sah der alte Mann Martin an und ganz langsam hellte sein Blick sich auf.
Der alte Mann wollte Martin danken, doch noch bevor er seine Sprache wiedergefunden hatte, galoppierte Martin davon. Seine Mantelhälfte flatterte hinter ihm im Wind und es dauerte nicht lange, da hatte er die anderen Soldaten eingeholt. „Haha, du siehst aus wie ein gerupftes Hühnchen!“ riefen sie, als sie Martin mit dem halben Mantel angeritten kommen sahen, und sie lachten ihn aus.
Martin kümmerte das nicht. Seine Hälfte vom Mantel wärmte ihn gut. Doch das war nicht alles. Martin spürte noch eine andere Wärme, eine, die gar nichts mit dem Mantel zu tun hatte. Diese Wärme kam von Innen und durchströmte wohlig seinen ganzen Körper. Als Martin diese besondere Wärme spürte, wusste er, dass er nicht länger Soldat bleiben wollte. In der Nacht träumte er von Jesus. In seinem Traum trug Jesus die Mantelhälfte, die Martin dem alten Mann gegeben hatte und sagte: „Du hast dem alten Mann geholfen. Damit hast du mir geholfen.“ Martin wollte von nun an zu Jesus gehören. Er ging in ein Kloster und wurde Priester. Später wurde er sogar Bischof. Sein ganzes Leben lang teilte Martin mit den Armen, erzählte von Jesus und brachte so die besondere Wärme zu den Menschen.

„Und an diese besondere Wärme erinnert uns jedes Jahr wieder der Schein der Martinslaternen, die ihr morgen beim Zug vor euch her tragen werdet“, beendet Frau Rother ihre Geschichte. Auf dem Rückweg zum Kindergarten üben alle gemeinsam die Lieder, die sie morgen beim Umzug singen wollen. „Sankt Martin, Sankt Martin, Sankt Martin ritt durch Schnee u-und…“ weiter kommt Marie nicht. Sie stolpert, verliert das Gleichgewicht und kann sich gerade noch mit den Händen aufstützen. Dann hört sie ein Knacken, der Boden gibt nach und Marie steckt bis über die Handgelenke in einer Pfütze. Kaltes, schlammiges Wasser trieft aus ihren Handschuhen. Als sie sich aufrappelt, ist von den gestickten Pferdchen nichts mehr zu sehen.
Maries Unterlippe fängt an zu beben. Ihre schönen neuen Handschuhe! Außerdem tun ihre Finger weh. Mit zitternden Händen versucht Marie, das Wasser aus ihren Handschuhen zu wringen. Übrig bleiben zwei braune Klumpen. Marie fängt an zu weinen.

Da spürt sie eine Hand auf ihrer Schulter. „Oje“, sagt Lisa. „Deine Hände sind ja schon ganz rot vor Kälte! Hier, nimm den!“ Lisa streift einen ihrer roten Fäustlinge ab und hält ihn auf, so dass Marie hineinschlüpfen kann. Maries andere Hand nimmt Lisa in ihre und hält sie den ganzen Weg zurück zum Kindergarten ganz fest.

Als sie das Eisentor erreichen, sind Maries Hände wieder schön warm. Die Hand, die Lisa gehalten hat, fühlt sich sogar ein klitzekleines bisschen wärmer an, als die Hand im roten Fäustling. „Wollen wir morgen beim Laternenumzug nebeneinander laufen?“ fragt Lisa. Marie nickt und freut sich schon auf den warmen Schein der Laternen.

Text: Kindermissionswerk ‚Die Sternsinger‘, www.sternsinger.de/martin Illustrationen: Gabriele Pohl, ReclameBüro / Kindermissionswerk ‚Die Sternsinger‘

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