Die Geschichte des Wahrener Geläuts
Während andere Gemeinden, wie Wiederitzsch mit der Heinrichsglocke (vor 1300!), Lindenthal mit der Marienglocke (1460) oder Lützschena mit der Annenglocke (1519), beachtliche Beispiele besitzen, hat Wahren mit seinen Glocken trotz unternommener Anstrengungen nur wenig anhaltenden Erfolg gehabt:
1634/35 findet sich die erste Erwähnung zum Wahrener Geläut. Damals wurde, nicht ohne Zutun des Leipziger Rates, welcher 1592 bis 1650 die Herrschaft Wahren besaß und 1631 den stattlichen Schülerchor über der Sakristei hatte errichten lassen, mit beachtlichem finanziellen Aufwand in Leipzig als Ersatz für die alte große Glocke eine neue gegossen (mehr dazu bei Kohlmann, S. 162-164).
1682 kam es, eine typische Maßnahme der sich nach dem Dreißigjährigen Krieg allmählich bessernden Verhältnisse, durch Meister Johann Jakob Hoffmann aus Halle zum Neuguss der kleinen und der mittleren Glocke, letztere mit 98 cm Kranzdurchmesser. Verwendet wurde dazu hauptsächlich eine noch vorhandene mittelalterliche Mönchsglocke, angeblich bis dahin durch ihren hohen Silbergehalt sehr wohlklingend, wie Schulmeister Johannes Metzner (1620-1713) – nachträglich? – dem Merseburger Superintendenten zur Kenntnis brachte.
1684 gaben die Lindenthaler (!) eine alte Glocke ab zu einem neuen Guss für die Wahrener Kirche, so dass zeitweilig dort entweder vier Glocken im Turm hingen oder dass vielleicht die Vaterunserglocke hinzugezählt war, die ihren Platz in Türmchen auf dem Kirchendach hatte.
1722 musste man die große Glocke aus dem Jahr 1635 umgießen. Sie besaß fortan einen Kranzdurchmesser von 119 cm.
In allen diesen Zeiten scheint es nicht zu einem harmonischen Geläut gekommen zu sein, dafür sorgten immer wieder eine nur mäßig gelungene Abstimmung, der Verschleiß und die Schäden, wie zum Beispiel Risse. Reisende auf der Hallischen (Georg-Schumann-) Straße spotteten über die tobe(= taube, ohne Empfindung tönende) Glocke, an der man das Dorf Wahren erkennen könne. Wenn daher Pfarrer Herrnsdorf., eigentlich ein musikalischer Mann, in seiner Beschreibung Wahrens (vor 1844) das Geläut als schön bezeichnet, so dürfte es sich, wie in anderen glättenden Passagen seines Berichtes, tatsächlich hier um Schönrednerei handeln.
1858 machte sich der Neuguss der kleinen Glocke nötig, Kranzdurchmesser 74 cm. Sie erhielt die Inschrift: Herrnsdorf, Pastor, gegossen G. A. Jauck in Leipzig. 1858. Ehre sei Gott in der Höhe. Die Gemeinden zu Wahren, Stahmeln und Möckern. (Von 1857 bis zur Bildung einer eigenen Kirchgemeinde 1888 gehörte Möckern nach Wahren.)
Hart traf es die Wahrener Gemeinde im 1. Weltkrieg, als alle drei Glocken im Turm für die Rüstungsindustrie beschlagnahmt werden sollten. Sie waren als ohne besonderen kulturgeschichtlichen Wert eingestuft worden. 1917 mussten dann zwei Bronzeglocken, die seit 1682 bzw. 1722 läuteten, als kriegswirtschaftlich wichtiges Buntmetall in die staatliche Rüstungsindustrie abgegeben werden. Im Protokoll einer Kirchenvorstandssitzung vom Januar 1919 ist zu lesen „aus der gebliebenen Glocke ist ein Stück herausgesprungen…“, und somit blieb der Kirchturm stumm.
Bereits im gleichen Jahr konnten drei neue Glocken wieder beschafft werden. Es sind die drei Glocken, die bis 2012 im Dienst standen und heute im Außenbereich der Kirche, vor dem Chorraum einen Ehrenplatz haben. In der Firma Gebrüder Ulrich und Weule in Bockenem hergestellt, bestehen sie, insgesamt 3.400 kg repräsentierend, aus Eisenhartguss. Das bewahrte sie vor der Beschlagnahme während des 2. Weltkrieges, aber durch die einst verwendete Legierung bilden sie jetzt, wie vielfach inzwischen auch andernorts, aufgrund ihres altersbedingten Verschleißes ein Problem, das auf rasche Lösung drängt.
Für die Glockeninschriften 1919 wählte man in Abkehr von älterer Tradition, die gern Namen von Obrigkeiten nannte, solche Bibelzitate, die in der Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs bewusst auf die kirchliche Orientierung hinweisen sollten. Große Glocke: Ehre sei Gott in der Höhe! (Lukasevangelium, Kapitel 2, Vers 14), mittlere Glocke: Das Wort unseres Gottes bleibet in Ewigkeit. (Prophet Jesaja, Kapitel 40, Vers 8), kleine Glocke: Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken! (Matthäusevangelium, Kapitel 11, Vers 28).
Diese damals zeitbezogen getroffene Auswahl ist heute nicht weniger gültig, und vielleicht sollte man daher, wenn es zum Guss neuer Glocken kommt, die alten Texte übernehmen. Unbedingt beizubehalten ist der Zusammenklang mit den Glocken von St. Albert. Auf diese vorgegebene Harmonie, für die einst 1953 Pater Gordian Landwehr (1912-1998) gesorgt hatte, ist bei allen Projekten, die sich mit der Neubeschaffung von Glocken für die Gnadenkirche befassen werden, zu achten.
Dieses ökumenische Zusammenspiel der Glocken wurde beachtet und auch beim Neuguss der Glocken der katholischen Kirche St. Albert beibehalten. So ergeben heute die die Glocken der Gnadenkirche und von St. Albert weiterhin ein harmonisches Geläut.
Für diesen Bericht wurden verstreute Notizen vor allem aus den niedergelegten Nachrichten im Turmknopf, aus Kohlmanns „Geschichte eines Dorfes“ und aus der Chronik von Kantor Hase zusammengefasst.
Literaturhinweise: Gottlob Herrnsdorf: Wahren. In: Sachsens Kirchen-Galerie, Bd.9:Die Inspektionen Leipzig und Grimma. Dresden o. J.,35 f.- Max Kohlmann: Wahren. Aus der Geschichte eines Dorfes. Leipzig 1920.- Otto Hase: Pfarrerchronik von Wahren und Lindenthal 1548-1927 (ungedruckt). Lindenthal 1957. Gerhard Graf: Die Chronik aus dem Turmknopf der Gnadenkirche von Leipzig-Wahren. In: Herbergen der Christenheit; Jahrbuch für deutsche Kirchengeschichte 18 (1993/94), 81-90.
August 2009 Gerhard Graf, Kirchenhistoriker
Juni 2020 Hans-Reinhard Günther